MATA
MATRIARCHAT UND TANZ
Tanz als Ausdruck ritueller Naturverbundenheit
2021
Warum können und wollen moderne Menschen von den Lesarten der matriarchalen Gesellschaften lernen? Das Gefühl von Entfremdung sowie die Suche nach dem Ursprung der Welt ist der Grund für ein starkes Wachsen von irrationalen Erklärungsmodellen der Welt. Rituale und Traditionen werden wiederbelebt, in ihnen wird Halt gesucht. Der Mensch entfernt sich dabei nicht selten von der Natur. Dabei ist er Naturwesen und als solches an die Gesetze der Natur angebunden. Das zyklische Verständnis von Tag, Monat, Jahr und Leben macht deutlich, dass wir als Individuen Teil der Natur und gleichzeitig Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Die Dreifaltigkeit der Diesseitsorientierung lässt sich in den Zyklen erkennen. Es ist ein Werden, Wachsen, Blühen, Ernten und Vergehen.
Rituale und Traditionen haben ein starkes Potential. Sie können eine Form sein Partikularität zu überwinden, sich mit der Natur und den Ahnen zu verbinden sowie aus der Geschichte zu lernen.
Die auf dieser Website präsentierten Materialien sind in Zusammenarbeit mit zwei Tänzerinnen (Julika Schlegel und Claudia Ferrando) einer Wildnispädagogin (Myriam Kentrup), einer Filmemacherin (Laura Hinz), Malerin (Nora von Sobbe), einer Mythenexpertin (Kathrin Wind) und einem Soundscaper (Fanis Gioles) entstanden. Sie sind sozusagen Forscherinnen und wollen zur eigenen kritischen Auseinandersetzung einladen.
Matriarchat
Als matriarchale Kulturen werden Ethnien bezeichnet, in denen das mütterliche, nährende, pflegende, gebärende Prinzip zentral ist. Die biologische Mutterschaft ist hierbei nicht wichtig, sondern wird zu einem kulturellen Model. Namen werden in der Mutterlinie weitergegeben. Vaterschaft sowie Monogamie sind keine bekannten Kategorien. Jedes Kind wird als ein wiedergeborener Ahne angesehen. Wissen und Güter werden in matriarchalen Gesellschaften geteilt. Das Kollektiv ist dabei zentral, der einzelne Mensch versteht sich noch nicht als Einzelner, er ist Teil seines Clans. Frauen werden hier für ihre regenerativen Fähigkeiten geehrt und erfahren entsprechende Fürsorge, genauso wie Kinder und alte Menschen. Ältere werden für ihre Lebenserfahrung geachtet. Anstelle des Privateigentums steht in matriarchalen Gesellschaften das gemeinsame Nutzungsrecht. Die Frauen verwalten hier die Lebensgüter (Felder, Häuser, Nahrungsmittel). Die Älteste ist die Matriatin. Sie verteilt die Güter und verhindert die Anhäufung von Eigentum. In Festen werden die Reichtümer eines Clans verteilt. Die Ökonomie des Schenkens führt zu einem regen Austausch der Güter. Die Subsistenz- Wirtschaft mit lokaler und regionaler Unabhängigkeit (Selbstversorger*innen) ist sozial orientiert und beruht auf Konsens.
Feste werden in Matriarchaten meistens den Jahreszeiten zugeordnet. Dies bringt die unmittelbare Naturverbundenheit zum Ausdruck. Der Mensch lernt von der Natur und ist im Unterschied zu anderen Tieren ein Werkzeug erzeugendes Tier. Die Kausalitäten der Natur waren internalisiert ohne sie als solche naturwissenschaftlich zu verstehen. Mythen dienten der Erklärung von solchen Phänomenen.
Die Erde wird hier als große Mutter verehrt. Himmel und Erde bilden zusammen die Welt, worin die Menschen eingebettet sind. Als „Frau- Welt“ ist sie weiblich und göttlich. Ein transzendenter Gott wird nicht benötigt. Matriarchate sind Diesseits- und nicht Jenseits orientiert. Die Arbeit ist wichtiger Bestandteil solcher Kulturen (z.B. weben, spinnen, Ackerbau, sähen, backen). Auch hier wird Wissen geteilt und die Natur mit Respekt und Demut um Unterstützung gebeten. Die Arbeit wird so zum Menschwerdungsprozess.
Matriarchale Mythen : Frau Holle
Der Mythus der Frau Holle erzählt von einer starken Frau, welche helfende Mutter, schützende Göttin, Richterin und Naturwesen zugleich ist. Die matriarchale Erzählung geht weit über das Märchen der Gebrüder Grimm hinaus, in welchem wir Frau Holle als alte, wettermachende Richterin erfahren. Als große Göttin tritt sie in ihrer dreifachen Gestalt auf. Sie regierte als Mädchen, als Frau und als weise Alte die drei Zonen der Welt: Himmel, Erde und Unterwelt. Dort wirkte die dreifache Göttin als Lichtbringerin vom Himmel (weiß/ Frühling), als Liebes- und Lebensbringerin auf der Erde (Sommer/rot) und als Richterin über Tod und Wiedergeburt in der Unterwelt (schwarz/Herbst/Winter).
Als weiße, junge Holle ist sie Vertraute und Beschützerin der Tiere, segnet die Felder und besitzt die Fähigkeit das Wetter zu machen. Mit ihrer Rückkehr auf ihren Berg bricht der Frühling aus. Ihre Priesterinnen, die Holden, lehrt sie über das Jahr in verschiedensten Künsten. Ihre Arbeiten zum Beispiel in Form von Brot backen, Wäsche waschen oder Decken ausschütteln, werden für die Menschen auf der Erde in Form von einer roten Sonne, Regen oder Schnee sichtbar. Sie ist es auch, die die jungen Frauen in den Teich lockt, um dort ein Frühlingsbad zu nehmen. Auf diese Weise können die Seelchen der verstorbenen Ahnen in die Jungfrauen schlüpfen. Frau Holle trägt verschiedene Namen und tritt auch in Facetten in anderen Göttinnen auf (Holle/ Percht/Freya/Gaia/ Venus etc.) Der weiße Anteil findet sich in der Göttin Artemis wieder. Diese Weise gilt als Beschützerin der Tiere. Die rote Frau Holle, auch Hulda genannt hingegen lässt sich in Demeter, der Göttin des Ackers und Getreides erkennen, aber auch in der Venus mit ihrer Lust und Sinnlichkeit. Laut den Mythen um Hulda sitzt diese mit offenem Schoß auf einem Stein und kämmt ihr goldenes Haar. Sie ist reif für Sexualität, Lust und bereit Mutter zu werden. In ihrem schwarzen Anteil ist sie die Anführerin der wilden Jagd. Sie richtet über Leben und Tod und nimmt die Toten mit in die Unterwelt. Unter ihrem Mantel sind die Seelchen geborgen, bis sie eine neue Mutter finden. Athene ist als Göttin der Unterwelt vielen Menschen bekannt.
In manchen Märchen stehen die drei Farben der Dreifaltigkeit auch für Morgen, Mittag, Abend (z.B. Baba Jaga Märchen). Die patriarchalen Märchen zeigen häufig die Umdeutung und Entfremdung der matriarchalen Symbole. Aus einer Diesseitsorientierung Dreifaltigkeit von Himmel, Erde und Unterwelt wurde im jenseitsorientierten Christentum der Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Das zyklische Verständnis der Welt
Zu jedem Zyklus wird im folgenden eine kurze Einführung gegeben. Zu jedem Zyklus wird auf den Materialkoffer mit Übungen verwiesen, wobei die Übungen teilweise auch für mehrere Zyklen eingesetzt werden können.
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Tag
Im Osten geht die Sonne auf und ein neuer Tag wird geboren. Noch ist der Tag weiß und verspielt. Es ist Raum für das Quatsch machen und Spielen. Am Mittag und somit im Süden gewinnen die Handlungen an Fokus. Der Tag wird rot. Auch Arbeiten, die keinen unmittelbaren Spaß bereiten werden zu Ende gebracht. Weben, spinnen, backen, sähen oder der Ackerbau können als rituelle Handlungen verstanden werden und wurden in matriarchalen Gesellschaften häufig im Kollektiv ausgeführt. Singen oder wiederkehrende und ritualisierte Bewegungen halfen beim weiter machen und verbanden die Arbeit mit einem sinnlichen Ausdruck. Wenn der Abend sich nähert, ist es Zeit für das Innehalten. Die Natur und auch die Gemeinschaft wird umsorgt bevor das Wissen und die Güter, meist am Feuer, geteilt werden. Geschichten werden erzählt und durch körperliche Zeichensprache untermalt. Tanz ist hier wesentlicher Ausdruck der Natur- und Ahnenverehrung und die Imitation Form um Beobachtungen (z.B der Jagd) zu teilen. Die Alten halten den Raum und sind wesentliche Quellen für altes, wichtiges Wissen. Nicht um sonst hat die Christianisierung besonders aus den alten Frauen Hexen gemacht. Ihr Wissen und ihrer Weitsicht war das Gegenteil von einer Unterwürfigkeit. Auch die Lust und Sexualität dürfen einen Raum haben in der roten Phase des Tages. Die Nacht ist schwarz und die Zeit des Tages in der Gelerntes reflektiert, integriert oder nach Prüfung aussortiert wird. Ruhe lässt den Raum für Dankbarkeit und Demut. Ein Tag stirbt um einem Neuen platz zu machen. Werden und Vergehen sind im zyklischen Verständnis der Welt immer Teil des Ganzen genau wie Trauer und Freude. Unter Zeuginnen sind diese Emotionen noch viel mehr natürlicher Teil von uns.
Monat
Der Menstruationszyklus ist verbunden mit dem Zyklus des Mondes und den Gezeiten. Am Anfang die Mutter. Die Dreifaltigkeit findet sich hier im Aufbau der Gebärmutterschleimhaut, der Zeit der Fülle und dem Abbau. Der Brunnen und auch der Kessel sind in matriarchalen Mythen Symbole für die Gebärmutter und die Vulva wird als Tor gelesen. Während die Geschlechtsorgane in matriarchalen Gesellschaften heilig waren sind sie immer mehr zu einem Tabu-Thema verkommen.
Jahr
Mit den immer wiederkehrenden Jahreszeiten ist das Jahr der Inbegriff von einem Kreislauf. Der Mythos von Frau Holle ist ganz eng mit dem Jahreskreis verbunden. Die Natur beginnt neu sich zu öffnen. Der Frühling ist da und mit ihm ist das Element Luft assoziiert. Die Jungfrauen baden im Mythos der Holle nun im Ahnensee, um die Seelen zu empfangen. Es folgt der Sommer mit seiner feurigen Lust. Alles blüht auf und verschmilzt. Der Herbst ist die Zeit der Ernte. Hier ist das Wasser das prägende Element. Das Jahr endet mit dem Winter, der Transformation und dem Tod. Ruhe kehrt ein und macht Raum für einen Neubeginn.
Leben
Auch das Leben erklärten sich matriarchale Gesellschaften als ein Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Die Ahnen kommen in dieser Weltsicht immer wieder zu ihrem Clan zurück. Die Ältesten sind in dieser Auffassung von Leben der Zugang zu Wissen und Quelle der Fürsorge. Sie halten den Clan zusammen. Jede Lebensphase hat ihre Aufgaben und Herausforderungen. Die Übergänge markieren Initiationen. Diese zu wertschätzen und bewusst zu vollziehen gilt es heute wieder neu zu lernen.
Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland.